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FAIR UND ZIELSTREBIG FÜHREN

systemischem Zuhören

Zuhören – Warum die wertvollste Aufgabe eines CEOs in den ersten 100 Tagen massiv unterschätzt wird

Sie haben gerade eine neue Rolle im Board angetreten oder ihren bisherigen Verantwortungsbereich erweitert. Alle warten auf Ihre ersten großen Entscheidungen. Und dann sagt Ihnen jemand: „Hören Sie einfach zu.“ Ihnen klingt das zu wenig ambitioniert? Ich sage Ihnen: Das ist der beste Ratschlag überhaupt! In diesem Beitrag erfahren Sie, warum. Und warum zuhören nicht gleich zuhören ist.

A wise old owl lived in an oak,
The more he saw the less he spoke,
The less he spoke, the more he heard,
Why aren’t we all like that old bird?

– John D. Rockefeller

Zuhören ist eine der wichtigsten Managementfähigkeiten unserer Zeit. Denn die vorrangige Aufgabe einer Geschäftsleitung besteht darin, komplexe Systeme zu verstehen und durchdachte Entscheidungen zu treffen – genau wie einst John D. Rockefeller, der stundenlang über strategische Fragen nachdachte.

Zeitzeugen berichten, dass Rockefeller Meetings meist schweigend verfolgte und nur dann das Wort ergriff, wenn es wirklich zählte. Das war zu seiner Zeit ungewöhnlich. Damals erforderten fast alle Arbeitsplätze eine Tätigkeit mit den Händen. Laut dem Wirtschaftswissenschaftler Robert Gordon waren im Jahr 1870 46 Prozent der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und 35 Prozent im Handwerk oder in der Fertigung angesiedelt. Nur wenige Berufe erforderten den Verstand der Arbeiter. Man dachte nicht nach, sondern arbeitete ohne Unterbrechung. Die Arbeit war sichtbar und greifbar.

Heute hat sich das umgekehrt. Und trotzdem verhalten sich viele Geschäftsführer:innen und Vorstände selbst wie Akkordarbeiter:innen, die ständig beschäftigt sein müssen. Doch während sie glauben, durch permanente Aktivität zu führen, entgeht ihnen das Wesentliche: Die unsichtbaren Muster und Regeln, die ihre Organisation wirklich steuern.

Stagnation durch übereilte Aktion – der Fallstrick für neue Geschäftsführer:innen und Vorstände

Ich erlebe es immer wieder, und vielleicht erleben Sie es gerade selbst: Sie sind ganz oben in der Chefetage angekommen. Einer der ersten Tage als neue:r Geschäftsführer:in oder Vorstand. Das Führungsteam sitzt vor Ihnen und wartet. Auf Ihre Vision. Ihre Strategie. Ihre Anweisungen. Der Druck ist greifbar. Sie spüren: Jetzt müssen Sie liefern.

Also sprechen Sie. Sie erklären Ihre Pläne. Sie skizzieren die Zukunft. Sie verkünden erste Änderungen. Schließlich wurden Sie nicht umsonst in diese Position berufen.

Ein paar Wochen später fragen Sie sich jedoch: Warum passiert eigentlich nichts?

Ihre sorgfältig durchdachten Entscheidungen verpuffen. Das Team nickt zwar höflich, macht aber weiter wie bisher. Sie haben das frustrierende Gefühl, gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Autsch! Ja, das tut weh, denn Sie sind in eine klassische Management-Falle gelaufen. Sie haben gesprochen, ohne wirklich zu verstehen, wie die Organisation „tickt“.

Bevor Sie nun ein Imposter-Syndrom bekommen, kann ich Sie beruhigen: Diese Erfahrung machen viele Geschäftsführer:innen und Vorstände in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit. Und nein, sie treffen in der Regel auch keine falschen Entscheidungen. Sie entscheiden lediglich auf Basis dessen, was Sie glauben zu wissen. Nicht auf der Basis dessen, was wirklich in der Organisation passiert. Denn hier liegt das eigentliche Problem: im System. Organisationen sind lebende Systeme mit eigener Logik, eigenen Spielregeln und eigenen Kommunikationsmustern. Wer diese nicht kennt, handelt zwangsläufig falsch.

Jetzt denken Sie vielleicht: Ach Frau Springub, ich höre doch schon zu!

Lassen Sie es mich so sagen: Es geht nicht darum, irgendwie zuzuhören. Sondern darum, mit der Präzision eines Analysten und der Geduld eines Forschers zuzuhören, der ein komplexes System verstehen will. Das sogenannte „systemische Zuhören“ zählt zu den wichtigsten Fähigkeiten einer Führungskraft. Es geht dabei nicht um das höfliche Nicken in Meetings, sondern um das tiefe, analytische Verstehen komplexer organisationaler Zusammenhänge.

Der Unterschied zwischen passivem und systemischem Zuhören

Wie Sie sicherlich bereits gemerkt haben, ist eine wichtige Unterscheidung nötig: Es gibt das passive Zuhören und das systemische Zuhören. Die meisten von uns hören zwar zu. Aber nur wenige hören systemisch zu.

Beim passiven Zuhören nehmen Sie Informationen so auf, wie sie oberflächlich präsentiert werden. Beim systemischen Zuhören hingegen sind Sie aktiv: Sie entschlüsseln die dahinter liegenden Muster und Zusammenhänge. Sie stellen Fragen, ziehen daraus ihre Rückschlüsse und allem voran: Sie geben Ihrem Team die Chance zur Reflektion und damit die Möglichkeit, neue Ansätze zu entwickeln. Ansätze, die Sie und Ihr Team wirklich voranbringen. Da sie anschlussfähig an Ihre Organisation sind.

Die Form des systemischen Zuhörens stammt aus der systemischen Beratung und Organisationsentwicklung und geht über das Hören des rein Gesagten hinaus. Sie lauschen also nicht mehr nur auf das, was explizit gesagt wird, sondern entschlüsseln systematisch:

  • den Kontext, in dem etwas gesagt wird (z. B. Machtverhältnisse, Organisation, Situation).
  • die Beziehungsebene zwischen den Beteiligten.
  • unausgesprochene Themen oder das, was zwischen den Zeilen mitschwingt.
  • emotionale Signale und Körpersprache.
  • die Funktion dessen, was gesagt (oder nicht gesagt) wird, beispielsweise ob es verteidigt, schützt, öffnet oder abwehrt.

Systemisches Zuhören zielt nicht auf eine schnelle Antwort oder Bewertung ab, sondern darauf, Raum für ein tieferes Verstehen zu schaffen. Es geht darum, komplexe Dynamiken zu erkennen und neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dies ist besonders für Führungskräfte in Veränderungssituationen wichtig.

Was passiert, wenn Sie beginnen, der Organisation systemisch zuzuhören?

Stellen Sie sich vor: Anstatt in den ersten Wochen große Ankündigungen zu machen, führen Sie zahlreiche strategische Gespräche. Mit Führungskräften, Mitarbeitenden, Kunden und mit den stärksten Kritikern. Dabei stellen Sie konsequent eine zentrale Frage: „Wie funktioniert das hier wirklich?“

Beim systemischen Zuhören verhalten Sie sich wie ein Detektiv, der das unsichtbare System der Organisation entschlüsselt. Jedes einzelne Gespräch liefert Ihnen ein wichtiges Puzzleteil. Nach einer Vielzahl solcher Gespräche sehen Sie das komplette Bild der organisationalen Dynamik. Sie entdecken plötzlich informelle Machtstrukturen, die Ihre bisherigen Entscheidungen sabotiert haben. Sie begreifen die unausgesprochenen Regeln, die das tägliche Verhalten steuern. Versteckte Konflikte und tiefer liegende Ängste und Interessen, die jede Veränderung von vornherein verhindern, werden sichtbar. Nun erkennen Sie das unsichtbare Betriebssystem der Organisation und damit die wichtigsten Hebel. Nun können Sie gezielt intervenieren – präzise, wirkungsvoll und nachhaltig.

Das Paradox des systemischen Zuhörens

Systemisches Zuhören bedeutet, zunächst die Kontrolle abzugeben. Normalerweise wird erwartet, dass Geschäftsführer:innen und Vorstände jederzeit sofort Antworten parat haben. Strategisches Schweigen ist tatsächlich ein Akt des Mutes: Sie müssen aushalten, dass andere Sie möglicherweise für unentschlossen halten könnten. Sie müssen Ihre natürliche Ungeduld bewusst zügeln. Außerdem müssen Sie akzeptieren, dass echtes Verstehen komplexer Systeme nun einmal Zeit braucht.

Aber genau hier liegt das faszinierende Paradox: Indem Sie zunächst die Kontrolle abgeben, gewinnen Sie sie langfristig zurück, und zwar auf einer viel solideren Basis. Denn Menschen vertrauen Menschen, die ihnen wirklich zuhören. Sie folgen denen, die ihre komplexe Realität verstehen. Und sie engagieren sich eher für die, die sie als Menschen ernst nehmen.

Mein Tipp für Ihre ersten 100 Tage: Die 70/30-Regel

Aufgrund dieser Erkenntnisse möchte ich Ihnen eine kleine Handlungsempfehlung mitgeben: In Ihren ersten 100 Tagen sollten Sie rund 70 Prozent der Zeit zuhören und nur 30 Prozent sprechen. Sie finden, das klingt ineffizient? Das Gegenteil ist der Fall. Denn jede Stunde des systematischen Zuhörens erspart Ihnen später Monate des mühsamen Kämpfens gegen unsichtbare Widerstände.

Erstellen Sie dazu ein systemisches Zuhör-Protokoll. Das kann zum Beispiel so aussehen:

Woche 1-4: Die organisationale Landkarte erstellen
  • Wie laufen Entscheidungen hier wirklich ab?
  • Wo ist die informelle Macht konzentriert?
  • Was sind die ungeschriebenen Gesetze?
Woche 5-8: Die emotionale Ebene verstehen
  • Was macht den Menschen hier Angst?
  • Worauf sind sie stolz?
  • Was frustriert sie am meisten?
Woche 9-12: Die systemischen Muster erkennen
  • Welche Geschichten erzählen sie über Veränderung?
  • Wie reagiert das System auf Störungen?
  • Was wird hier wirklich belohnt?
Erst, wenn Sie klare Antworten haben und die Funktionsweise der Organisation wirklich verstehen, sollten Sie Entscheidungen treffen. Etwas zeitaufwendiger, dafür aber fundiert und wirkungsvoll.

Systemisches Zuhören als Superkraft neuer Geschäftsführer:innen und Vorstände

Zum Schluss stellen Sie sich einmal vor: Tag 100. Sie sind seit knapp einem Quartal als neue:r Geschäftsführer:in oder Vorstand in Ihrer Rolle. Sie treten vor Ihr Team, um Ihre erste große strategische Entscheidung zu verkünden. Doch dieses Mal ist alles grundlegend anders als bei Ihren Vorgänger:innen. Ihr Team spürt es, ohne dass Sie etwas gesagt haben.

Sie kennen die informellen Machtzentren bereits und wissen, wie Sie diese für Ihre Ziele gewinnen können. Sie erkennen die emotionalen Landminen und können sie geschickt umgehen. Vor allem aber wissen Sie genau, welche Hebel in dieser spezifischen Organisation wirklich funktionieren.

Ihre erste große Entscheidung ist kein hoffnungsvoller Schuss ins Blaue mehr. Sie ist ein präziser Schachzug, der auf tiefem Systemverständnis und strategischer Vorarbeit basiert.

Das Team folgt Ihnen dabei nicht aus blindem Gehorsam oder aufgrund von hierarchischem Druck. Es folgt Ihnen aus echter Überzeugung, weil es merkt: Die neue Geschäftsführung, der neue Vorstand versteht uns, unsere Herausforderungen und unsere Motivation wirklich. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen oberflächlichem Führen und nachhaltigem Gestalten von Organisationen.

Merken Sie bereits, dass systemisches Zuhören Ihre Superkraft ist? Die entscheidende Frage ist: Haben Sie den Mut, diese einzusetzen?

Ihre Elena Springub

Die ersten 100 Tage in einer neuen Position entscheiden über Ihren Erfolg.

Verschwenden Sie diese nicht mit voreiligen Entscheidungen, die auf unvollständigen Informationen basieren. Investieren Sie in dieser wichtigen Phase stattdessen in das tiefe Verstehen der Organisation, die Sie erfolgreich führen sollen.

Im Executive Sparring+ begleiten wir von Springub Consult Geschäftsführer:innen und Vorstände in neuer oder erweiterter Rolle dabei, ihre individuellen Organisationen zu entschlüsseln und mit authentischer Haltung zu führen. Vereinbaren Sie jetzt ein Strategiegespräch:

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